Selbst Laien erkennen, wie sehr sich heutige Mountainbikes von den Rädern unterscheiden, mit denen Geländefans noch um die Jahrtausendwende auf Trails unterwegs waren. Der pressedienst-fahrrad zeigt auf, was sich verändert hat und warum heute sogar Wege befahrbar sind, die manch trittsicherem Wanderer unbegehbar erscheinen.
Der Rahmen ist das Rückgrat des Fahrrades – seine Maße bestimmen das Fahrverhalten genauso wie spektakuläre Innovationen bei Federung, Bremsen und Reifen. Die Rahmengeometrie von Mountainbikes hat sich dabei seit ihrer Erfindung extrem geändert und dem Sport damit ganz neue Einsatzmöglichkeiten erschlossen. Bretterte man noch vor zehn Jahren in einem aerodynamisch günstigen Skianzug möglichst schnell steilste Schotterstraßen herunter, sind heute Wege befahrbar, die manch trittsicherem Wanderer nicht begehbar erscheinen. Der pressedienst-fahrrad nimmt die neuesten Entwicklungen in Sachen Geometrie und Passform unter die Lupe.
Emanzipation vom älteren Bruder
Rennradfahren findet, vom Sprint oder Klettern einmal abgesehen, vorwiegend im Sitzen statt. Die Optimierung der Sitzposition unter ergonomischen, aerodynamischen und nicht zuletzt Komfort-Aspekten geht in das Lastenheft des Rahmenbauers ein. „Auf dem Mountainbike sind die Anforderungen völlig andere“, verrät Nicolai-Testfahrer Frank Schneider. „Im technischen Gelände verändere ich andauernd meine Position auf dem Rad – im Sitzen wie im Stehen“, so der ehemalige Rennfahrer in den Disziplinen Cross Country, Enduro und Downhill. Das Rad muss dabei verschiedenen Erwartungen in zwei fundamental unterschiedlichen Fahrpositionen genügen: In der sitzenden Position muss es bergauf ausreichend Druck auf das Vorderrad bringen, um dieses am Steigen zu hindern – gleichzeitig braucht es aber genügend Druck auf dem Hinterrad, um dessen Traktion zu sichern. In der stehenden Position bergab soll es viel Bewegungsfreiheit bieten, damit der Fahrer aktiv mit dem Rad arbeiten kann.
Wie extrem werden die Geometrie-Entwürfe sein in 2016?
Mythos Rahmenhöhe
„Erfahrene Rennradfahrer nehmen schon Abweichungen ihrer Sitzposition um wenige Millimeter wahr. Deshalb achten wir im Straßenbereich sehr darauf, unsere Räder in feinen Abstufungen der Rahmenhöhe anzubieten“, erklärt Heiko Böhle vom kalifornischen Fahrradhersteller Felt. Im Geländebereich seien andere Größen dagegen viel entscheidender: „Allem voran die Winkel- und Längenmaße des Rahmens bestimmen das Fahrverhalten eines Mountainbikes.“ Spätestens mit dem Siegeszug der höhenverstellbaren Sattelstütze verlor die Rahmenhöhe – oder die oft synonym verwendete Sitzrohrlänge und in der Zeichnung Wert B – ihre Bedeutung als Kerngröße am MTB: „Mit einer Variostütze bin ich während der Fahrt in der Lage, die perfekte Sattelhöhe einzustellen – von komplett versenkt für die technische Abfahrt bis ganz ausgefahren für das Kurbeln am Anstieg“, schildert Elmar Keineke von der Firma Sram, die den Einsatz von Variostützen mit der Rock Shox „Reverb“ (ab 346 Euro) entscheidend vorangetrieben hat.
Rahmenmaße begreifen
Doch wie nun die richtige Rahmengröße finden, wenn die altbekannten Werte kaum übertragbar sind? „Zunächst einmal sollte man sich klarmachen, was die wichtigsten Begriffe bedeuten“, hilft Christian Malik, Produktmanager bei Haibike, „erst dann kann man verstehen, wie sich Veränderungen dieser Werte auf das Fahrverhalten auswirken.“ Der Lenkwinkel etwa beschreibt den Winkel zwischen Gabel und Horizontale (Wert E) und wirkt sich auf das Lenk- und Kurvenverhalten des Rades sowie das Überrollverhalten des Vorderrads aus. Die effektive Oberrohrlänge (A) wird parallel zum Boden gemessen und ist der Abstand zwischen der Mitte des Steuer- und Sitzrohres, ausgehend vom oberen Ende des Steuerrohrs. Sie bestimmt die Sitzposition, die der Fahrer auf dem Rad einnimmt. Der Reach (Q) beschreibt den Platz, der dem Fahrer in der stehenden Position im Rahmen bleibt und ist ein Teil der effektiven Oberrohrlänge, nämlich vom Steuerrohr bis zum Lot über dem Tretlager. Der Radstand (D) schließlich ist die Länge des Rades zwischen den Achsen der Laufräder und setzt sich aus den Werten für Hauptrahmen- und Kettenstrebenlänge (Hr) zusammen.
Länge läuft – oder nicht?
Flache Winkel und langer Radstand gleich fahrstabil, steile Winkel und kurzer Radstand gleich wendig: So lautet eine häufige Vereinfachung des Themas. Doch wie so oft werden auch hier einfache Antworten vielschichtigen Fragestellungen nicht gerecht. „Die Geometrie eines Mountainbikes ist ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren“, erklärt Marcel Lauxtermann, Ingenieur beim Maßrahmenhersteller Nicolai, der mit dem „Ion GPI“ (ab 6.699 Euro) für die derzeit vielleicht radikalste Mountainbike-Geometrie verantwortlich zeichnet. „Wenn man die Randbedingungen im Griff hat und das richtige Zusammenspiel der Parameter findet, kann man ein langes und flaches Rad bauen, das fahrstabil und kurvenwillig zugleich ist“, sagt der Nicolai-Mann selbstbewusst.
Welche Geometrie für wen?
Den einen Rahmen für jeden gibt es nicht, denn der Einsatzbereich des Rades spielt bei der Wahl einer bestimmten Geometrie eine große Rolle. Wer sein Rad bei einem Marathonrennen über 100 Kilometer und 3.000 Höhenmeter im Renntempo bewegt, für den entscheiden die Klettereigenschaften und die Sitzposition auf dem Rad am Ende des Tages über Wohl oder Wehe. Wer dagegen als Enduro-Fahrer den Aufstieg als notwendigen Preis für das Glück der gravitationsgetriebenen Talfahrt begreift, wird sich vor allem um die Abfahrtsperformance und seine stehende Position im Rad Gedanken machen. Insgesamt gibt es aber über alle Einsatzbereiche hinweg einen spürbaren Trend zu flacheren und längeren Mountainbike-Geometrien. Moderne Hardtails wie das Van Nicholas „Revelstoke“ (ab 3.618 Euro) decken auf diese Weise einen großen Einsatzbereich von der Tour über das Marathonrennen bis zum technischen Trail ab, während aktuelle All-Mountain-Bikes wie das Felt „Decree“ (ab 2.750 Euro) oder das Haibike „Heet“ (ab 3.799 Euro) gut mit Winkeln und Radständen fahren, die vor wenigen Jahren noch reinen Downhill-Boliden vorbehalten waren – bergauf wie bergab.
Das alles sollte man natürlich möglichst einmal ausprobieren. Und dafür muss man auch nicht zwingend ein neues Rad kaufen. „Mit dem Cane Creek ,Angleset‘ (ab 159 Euro) kann man den Lenkwinkel auch am gewohnten Rad um ein halbes, ein oder anderthalb Grad in beide Richtungen verändern“, erklärt Daniel Gareus vom Großhändler Cosmic Sports die Wirkung des Winkelsteuersatzes, der in den meisten handelsüblichen Rahmen das vorhandene Lenkkopflager ersetzen kann.
Text: Pressedienst Fahrrad
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